Das Rathaus spiegelt sich in einer Kugel und steht darin auf dem Kopf.

Stadtgeschichte

Gerichtsbuch taucht wieder auf

Von der Existenz des Gerichtsbuches wusste man, seitdem Pfarrer Friedrich Wilhelm Junghans am 2. Juli 1885 auf der Monatsversammlung des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde einen Vortrag über die Gelnhäuser Schöffengerichtsbarkeit hielt. Als Beleg hatte Junghans ein Gerichtsbuch herangezogen, das sich damals im Gelnhäuser Stadtarchiv befand und über die regelmäßigen Sitzungen des Schöffengerichts in den Jahren 1465 bis 1471 berichtete. Junghans hatte den Kodex zur Grundlage seiner Analyse des Gerichtswesens im späten Mittelalter gemacht.

Ein Jahr später fügte er in seinem umfassenden Aufsatz über die Geschichte der Stadt Gelnhausen eine Transkription von 94 Einträgen aus dem Buch bei. Diese Passagen sollten für die darauffolgenden 135 Jahre die einzigen Teile des Bandes bleiben, die der Forschung noch zugänglich waren. “Im späten 19. Jahrhundert scheint sich der Aufbewahrungsort des Buches mehrfach geändert zu haben. Bis vor Kurzem galt es als verschollen,” berichtet Vinnen. Zahlreiche Forschende hätten in den vergangenen Jahrzehnten versucht, den Kodex in sämtlichen Archiven, die als Aufbewahrungsort in Frage kamen, zu finden.

Aufgetaucht ist das historische Zeitzeugnis nun im Rahmen eines Projekts, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird. So ist am Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg die Online-Datenbank „Index Librorum Civitatum“ entstanden, die es Forschenden ermöglicht, Stadtbücher aus ganz Deutschland, die in verschiedenen Archiven aufbewahrt werden, an einem zentralen Punkt online zu finden (wir berichteten). Unterstützung erhielt Anette Vinnen bei der Umsetzung des Projektes in Gelnhausen von der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Hanna Nüllen, die an mehreren Tagen die vor Ort aufbewahrten Gelnhäuser Stadtbücher nach wissenschaftlichen Kriterien aufnahm und online stellte. Nachdem in einem intensiven Arbeitsprozess bereits alle vorhandenen Stadtbuchbestände und Prozessakten des 17. und 18. Jahrhunderts aufgenommen worden waren, legte Stadtarchivarin Anette Vinnen Hanna Nüllen einen kleinen Stoß möglicherweise noch zum Thema gehörende Archivalien auf den Tisch. Dem geübten Blick der auf das Mittelalter spezialisierten Historikerin Nüllen entging nicht, dass sich in dem Konvolut eine eindeutig mittelalterliche Handschrift befand. Ein Vermerk in einer jüngeren Kurrentschrift auf dem pergamentenen Einband des Buches identifizierte dieses eindeutig als „Gerichtsbuch der Stadt Gelnhausen 1465–1471“. Eine schnelle Prüfung ergab, dass der Titel in der Tat mit dem Inhalt des Bandes übereinstimmte und es sich wirklich um das seit über hundert Jahren verschollene Zeugnis des Gelnhäuser Schöffengerichts aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts handelte.

„Wir können von Glück reden, dass gerade die Historikerin Hanna Nüllen, die als ausgewiesene Expertin der spätmittelalterlichen Anlage und Nutzung von Büchern in städtischen Verwaltungsvorgängen gilt, zu uns ins Stadtarchiv kam. Die Doktorandin untersucht in ihrer Dissertation den Einsatz derartig genutzter Bücher der Reichsstädte Friedberg und Gelnhausen als Beispiele für die Bedeutung von Büchern in Städten mittlerer Größe. Die seit dem 13. Jahrhundert in Mitteleuropa und seit dem 14. Jahrhundert in Gelnhausen verstärkt genutzten Bücher erlaubten es, komplexe Informationen orts- und zeitungebunden zu kommunizieren und zu speichern”, so Vinnen.

Eine Seite aus dem Gelnhäuser Schöffengerichtsbuch aus dem 15. Jahrhundert.

Inklusive des wieder aufgefundenen Gerichtsbuchs hätten sich laut Hanna Nüllen aus der Mitte des 15. Jahrhunderts insgesamt lediglich acht Bücher, die von Gelnhäuser Amtsträgern geführt wurden, erhalten. Aus diesen Quellen sowie aus einem Verhörprotokoll im Rahmen eines Reichskammergerichtsprozesses des Jahres 1554 gehe aber hervor, dass eine deutlich größere Anzahl von Büchern produziert worden sei, die in den darauffolgenden Jahrhunderten zerstört worden seien oder verloren gingen, so Nüllen. “Umso bedeutsamer ist es, gerade für den besonders quellenarmen Zeitraum der Mitte des 15. Jahrhunderts nun ein verschollen geglaubtes Buch zurückgewonnen zu haben”, freut sich die Gelnhäuser Stadtarchivarin Vinnen. 

Das Zeitzeugnis dokumentiert Gerichtsprozesse um Geldeinforderungen, Verpfändungen, Streitigkeiten über Bausachen, Beleidigungsklagen und Verunglimpfungen oder sogar gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Gelnhäusern. “Insbesondere in den längeren Einträgen tauchen Aspekte des alltäglichen Lebens im spätmittelalterlichen Gelnhausen schlaglichtartig auf”, berichtet Hanna Nüllen aus dem Inhalt. So klage beispielsweise Hermann Becker einen Knecht an, dass sein Pferd zu Schaden gekommen sei, woraufhin der Knecht schwor, er habe das Pferd genau wie sein eigenes Gut behandelt.

“Insgesamt erlaubt der wiedergefundene Kodex das Bild der Rechtspraxis im Gelnhausen des 15. Jahrhunderts weiter zu entwickeln. So kann zukünftige Forschung auf eine hervorragende Quelle zugreifen, die zum Beispiel hinsichtlich der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Privatpersonen, deren Vermögen und deren soziale Interaktionen Aufschlüsse geben kann, aber auch einen Blick auf deren Einbindung in städtische Netzwerke erlauben. Auch als namens- und ortskundliche Quelle eignete sich der Band ausgezeichnet.”

“Das Buch ist für die Aufarbeitung unserer Stadtgeschichte und als wertvolles Zeugnis des Gerichtswesens im 15. Jahrhundert von großer Bedeutung”, freut sich auch Bürgermeister Daniel Christian Glöckner über den Fund.